Am Nachmittag des 26. Februar 2015 zeichnet sich im Stratocumulusfeld im "Kielwasser" der kleinen Atlantikinsel Madeira eine rund 500 km lange Kármán-Wirbelstraße ab (NASA/EOSDIS).
Dank der Wettersatelliten können wir meteorologische Phänomene aufspüren, die sonst unentdeckt bleiben würden. Das gilt besonders für großräumige Wolkenmuster über den Weltmeeren.
Ein prominentes Strömungs- und Wolkenphänomen sind die sogenannten Von-Kármán-Wirbelstraßen. Lange bevor wir sie mit Hilfe der Wettersatelliten zu Gesicht bekamen, wusste man durch Experimente und Berechnungen von ihrer Existenz - besonders durch die theoretischen Arbeiten des Physikers Theodore von Kármán im Jahr 1911. Seinen Berechnungen zufolge können sich bei bestimmten Schichtungsbedingungen in einem strömendem Medium (Wasser, Luft) auf der strömungsabgewandten Seite eines Strömungshindernisses regelmäßig ausgebildete und langgezogene Wirbel"zöpfe" bilden, bestehend aus einem Strang einzelner Wirbel mit gegenläufigem Rotationssinn (Wirbelstraßen, Wirbelschleppen). In der Praxis kannte man das Phänomen bereits von Fließgewässern: regelmäßig angeordnete Wirbelmuster hinter Steinen, die über die Wasseroberfläche hinausragen.
Ähnliche Bedingungen herrschen in der Atmosphäre, wo vom Wind um- und überströmte Berggipfel über eine stabil geschichtete Grundschicht hinausragen. Lehrbuchartig ausgeprägt sind diese Kármán'schen-Wirbelstraßen über den Ozeanen bei ungestörtem Strömungsfeld und einheitlichen Wassertemperaturen. Das die Wirbelstraße auslösende Strömungshindernis ist in der Regel eine gebirgige Insel.
Die schematische Darstellung zeigt verschiedene Möglichkeiten der Strömungsbeeinflussung durch ein Hindernis. Hinsichtlich der Stärke der Beeinflussung spielt die sogenannte Reynolds-Zahl eine entscheidende Rolle - sie errechnet sich aus Strömungsgeschwindigkeit, Hindernisgröße und -form sowie Viskosität des strömenden Mediums (in der Atmosphäre ist hier die thermische Schichtung wichtig). So lässt sich errechnen, wann die größte Wahrscheinlichkeit für Wirbelstraßen besteht: bei Reynolds-Zahlen zwischen 50 und 200000.
(Schemata zusammengestellt nach www.sites.sinauer.com/animalcommunication2e/chapter07.02.html).
In Simulationen lassen sich Von-Kármán-Wirbelstraßen reproduzieren. Wir sehen eine solche in der Aufsicht: eine nordöstliche Strömung mit einem zylinderförmigen Hindernis, das die Verwirbelung auslöst, und in Lee die Entstehung der Straße aus Wirbeln mit entgegengesetztem Drehsinn (violett, grün)
(http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b4/Vortex-street-animation.gif).
Begünstigend wirken sich relativ niedrige Wasseroberflächentemperaturen aus, die zu einer besonders stabilen Inversion und auch meist zu einer Stratocumulusdecke führen. Zugleich muss ein lebhafter Wind in der Grundschicht wehen. Die stabile Schicht erzwingt bei Inseln, die über die Inversion hinausragen, eine überwiegende Umströmung (statt Überströmung) der Insel. Dadurch entstehen im Lee markante Windscherungslinien, die als Ansatzstellen für die Wirbelstraßen fungieren. Diese Wirbelstraßen reichen bei niedriger Inversionshöhe bis in die Stratocumulusdecke hinauf und prägen der Wolkendecke ihr Muster auf, das sich aus der Satellitenperspektive in seiner Gesamtheit wunderbar erkennen lässt.
Das Wolkenfeld ist für die verwirbelte Luftströmung demnach wie der Werkstoff für den Bildhauer. Erst die Wolken machen das gesamte Strömungsfeld für uns aus der Satellitenperspektive sichtbar, in die Wolken fräsen die Luftwirbel ihr Muster. Eine geschlossene Stratus- oder Stratocumulusdecke ist ideal. Zugleich darf es keine höheren Wolken geben, die dem Satellitenauge den Blick auf das Muster verwehren würden. Kurz gesagt, einen optimalen Blick auf das Phänomen bieten maritime Regionen in der Nähe großer dynamischer Hochdruckgebiete mit feuchter, wolkenerfüllter Grundschicht unter einer ausgeprägten Absinkinversion.
Madeira ist bekannt für seine gut ausgebildeten Kármán-Wirbelstraßen, die durch die synoptischen Bedingungen (am Rande des Azorenhochs in der Wurzelzone des Atlantikpassats mit häufigen nordöstlichen Winden und stabiler Schichtung) und durch die Inseltopografie (frontale Anströmung der Insel, hohe Berge) begünstigt werden
(www.de.wikipedia.org/wiki/Madeira).
Die Wirbelstraßen von Madeira sind sogar Gegenstand einer Diplomarbeit gewesen (http://othes.univie.ac.at/20547/). In der hat Johannes Sachsperger in Simulationsrechnungen und Befliegungen das Windfeld untersucht und eine Klimatologie der Wirbelstraßen erstellt. Danach gilt der Sommer als Hochsaison der Wirbelstraßen.
Eine Strömungssimulation aus der Arbeit von Sachsperger für das Niveau 600m ü.NN für eine typische Wirbelstraßen-Wetterlage zeigt im Windschatten Madeiras das charakteristische Wirbelpaar mit entgegengesetztem Drehsinn.
Ein während einer Wirbelstraßen-Wetterlage aufgenommenes Foto (Abb. links) in der Föhnlücke südwestlich von Madeira. Der Aufnahmeort liegt im Kernbereich des linken Wirbels mit zyklonalem Drehsinn (s. Abb. rechts). Man erkennt die starke Windzunahme in Luv sowie in der Ferne eine scharfe Wolkenkante
(http://othes.univie.ac.at/20547/).
In den Tagen um den 26. Februar 2015 herrschten günstige synoptische Bedingungen für die Entstehung einer Wirbelstraße im Lee von Madeira (in den Abb. mit grünem Kreis markiert): die Nähe zu einem kräftigen Azorenhoch mit einer trocken-warmen höheren Atmosphäre und einer windigen Grundschicht, unten begrenzt durch 17 Grad kühles Wasser
(www1.wetter3.de, www.weatheronline.co.uk, www.ghrsst-pp.metoffice.com).
Wie schön, dass in Funchal auf Madeira routinemäßig Radiosondenaufstiege durchgeführt werden. Die Auswertung für den 26. Februar zeigt eine feucht-kühle Grundschicht, darüber in 700-1300m ü. NN eine markante Inversion. Die relativ warme und knochentrockene Höhenluft reicht bis unter Gipfelniveau herab. Durch den "Deckel" der markanten Inversion wird die Insel in der Grundschicht zum schier unüberwindbaren Strömungshindnis und zwingt zur Umströmung, die wiederum in Lee zur Bildung von Wirbelstraßen führt
(Hintergrundbild: Google Earth, Daten: www.weather.uwyo.edu/upperair/europe.html).
Wie es das Glück wollte, befand sich die Wirbelstraße mit ihrer gesamten Länge noch im Bereich des Meteosat Rapid-Scan - Ausschnitts. So ergab sich die Gelegenheit, eine zeitlich hochausgelöste Animation der Wolkenbewegung zu produzieren (YouTube bietet den Loop in HD-Auflösung).
So bot uns Madeira an jenem 26. Februar 2015 ein lehrbuchartiges Beispiel des Phänomens. Beim Anblick des Satellitenbilds hätte Theodore von Kármán seine wahre Freude gehabt: Eine nur 57 km lange Insel produziert in ihrem Lee eine über 500 km weit reichende Wirbelstraße!